Ich weiß, man sollte mit Superlativen vorsichtig sein. Zu oft wird damit Missbrauch getrieben. Zu oft entpuppt sich ein als außergewöhnlich, einzigartig, gepriesenes Produkt als Enttäuschung oder gar als Flop. Welch ein Glück aber, wenn die Erwartungen in ein Produkt, in diesem Falle ein Buch, nicht nur bestätigt sondern sogar noch übertroffen werden. Das Buch „The Restaurant“ wird zwar als Kochbuch vorgestellt, aber es fällt mir schwer, es auch als solches zu rezensieren, da es alles, was man unter einem „normalen“ Kochbuch versteht, ad absurdum führt. Heiko Nieder - der Zauberer des Sinnenrauschs
Seit 13 Jahren ist er Chef de Cuisine in „The Restaurant“, dem Restaurant im legendären Hotel „The Dolder Grand“ in Zürich. Nieder, vielfach ausgezeichnet, wurde 2019 zum Koch des Jahres gekürt. 19 Punkte im „Gault Millau“ sprechen überdies eine beredte Sprache. Mittlerweile zählt er zu den besten Köchen der Schweiz. Jetzt hat er seine, wie er es selbst nennt, „flüchtigen Vergnügungen“ in bleibende Erinnerungen gefasst. Welch ein Genuss, dass wir uns an diesen Lustbarkeiten erfreuen und berauschen dürfen.
Heiko Nieder. Foto: PRDas Dolder Grand über Zürich. Foto: Hiepler-Brunier
Da das Auge bekanntlich mitisst, sind die über 100 farblichen Fotografien von Fabian Häfeli vom Feinsten und mehr als nur schmückendes Beiwerk. Sie sind ein wichtiger und wertvoller Teil des Buches und ein wahrer Augenschmaus. Sie wecken Lust und machen neugierig, das zu probieren, was uns, so meisterlich fotografiert, auf den Tellern anlacht.
Viel mehr als nur Kochbuch
Wer dann glaubt, er könne, nachdem er die Rezepte (eigentlich sind es gar keine) gelesen, sofort in der Küche verschwinden, um selbige nachzukochen, unterliegt einem Irrtum. Mögen sich auch manche Gericht wie „Heidelbeeren mit Sellerie, Gurke und Ingwer“ oder „Thunfisch mit Ei und Senf“ einfach anhören, doch, wenn man tiefer in die Rezepturen einsteigt, merkt man, dass dies alles mehr als nur Kochen ist. Es ist eine Art Partitur, eine Komposition, ein Spiel mit manchmal über 50 Einzelteilen, welche, meisterlich arrangiert, dann zu einer wahren sinnlichen Offenbarung und vollkommenen Harmonie führen. Nieder arbeitet mit Pinzette und Skalpell. Alles Grobe, Raue ist ihm fremd. Seine unverwechselbare Handschrift gebiert Gerichte, die sowohl überraschend als auch präzise sind. Mal wagnerscher Walkürenritt mal mozarteske Verspieltheit. Dass dies alles nur mit einem ausgesuchten und eingespielten Team und viel technischem Equipment möglich ist, versteht sich dabei von selbst. Auch die Zutaten sind oft nicht einfach so „um die Ecke“ zu bekommen. Aber dieses Buch hat auch nicht den Anspruch, Kochen und Essen als pure Notwendigkeit anzusehen. Essen ist mehr, als nur satt zu werden. Die Freude, die der Koch an der Zubereitung hat, soll der Gast beim Essen haben. Nieder versteht Kochen als Handwerkskunst, welche sich in stetiger Veränderung, aber immer gleich hoher Wertschätzung der verwendeten Produkte befindet. Er verbindet die Klassik mit der Moderne, indem er manchen altbekannten Gerichten einen neuen, frischen Anstrich verpasst. Bewahrer und Pionier gleichermaßen! Bevor es ans Kochen geht, erklärt Nieder in einem Vorwort, warum dieses Buch entstanden ist, und weshalb gerade jetzt. Schon darin wird deutlich, um was es ihm geht.
Frühling: Gefühl von Frische und Leichtigkeit
Heiko Nieder, The Restaurant, Weißer Spargel
Die Jahreszeiten sind es dann, die die einzelnen Gerichte bestimmen. Jede Jahreszeit wird nochmals unterteilt in Apero, Amuse bouche, Menü, und Süßigkeiten. Den Abschluss einer jeden Sequenz bildet ein besonders ausgearbeiteter Text zu den Besonderheiten und Eigenarten des Restaurants und seiner Protagonisten. Die Jahreszeiten sind einer der wesentlichen Faktoren, die die Menüs beeinflussen.
Gerichte wie „Weißer Spargel mit Kresse, Ei und Kaviar“, „Erdbeeren mit Buchweizen, Estragon und Aji Amarillo“ als die typischen Frühlingsboten zaubern satte kräftige Farben, verführende Aromatik und Aufbruch und Frische auf die Teller.
Einem aromatischen Dreiklang von Süße-Säure-Schärfe und fernöstliche Extravaganz erlebt man bei Kreationen, wie „Chinakohl mit Kimchi, Ingwer und Rhabarber“ und bei einem „Kaninchen mit Wiesenkräutern, eingekochten Pilzen und grüner Tomate“, hat man den Frühling vollends eingefangen. Die 7 Süßigkeitenvarianten bringen jedes Leckermaul ins Schwelgen.
Sommer: Erinnerungen an Strandspaziergänge und Sonnenuntergänge
Leichte Küche mit vielen Fischvariationen machen Nieders Sommerküche aus. Ob Hecht, Steinbutt, Schwertfisch oder Thunfisch, Nieder versteht es, mit überraschenden Kombinationen für wahre Geschmacksexplosionen zu sorgen. So verbindet er Seehecht mit Gänsemastleber Miso, Chili und Yuzu und den Schwertfisch mit einer geeisten Tomaten-Krustentier-Essenz. Aber auch die Kombination Lamm mit Rote Bete, Aprikosen, Kokosnuss und Dill sorgt sicherlich für geschmackliche Leuchtfeuer. Dass natürlich auch reife Früchte und Beeren in der Sommerküche zuhause sind, versteht sich von selbst.
Herbstküche: ein Füllhorn an Aromen, mal leicht, mal erdig, mal fruchtig
Auch hier zeigt Nieder seinen Einfallsreichtum, was die Zusammenstellung von Zutaten betrifft. Seine Kreativität scheint keine Grenzen zu kennen. Wer vermutet, dass man eine Mango mit Sardellen, Piment D`Espelette und Olivenöl zusammenbringen kann? Oder dass eine Liaison von Jakobsmuschel, Kalb mit Erdnuss, Dill und Kaviar, zu einer perfekten Harmonie führen? Wenn Hirsch eine Verbindung mit Steinpilzen, Holunder, Gelben Rüben und Curry eingeht, werden manche sicherlich mit dem Kopf schütteln. Aber wenn man dann sieht, welch viele Zutaten für diese ganzen Gerichte notwendig sind, aus wie vielen Einzelteilen alles besteht, und mit welcher Akribie es zusammengestellt und angerichtet wird, dann überkommt einen nur noch die schiere Lust, es sofort probieren zu wollen.
Winter ist mehr als nur Wurzelgemüse
Auch bei der Zubereitung winterlicher Gerichte kennt die Fantasie Nieders keine Grenzen. Mal erdig, wohlig, vertraut, mal exotisch und extravagant. Nieder liebt es, seine Gerichte so zu kombinieren, dass der Genießer auch mal herausgefordert wird, auf das Unerwartete trifft, um gleich darauf wieder geerdet zu werden. Es ist dieser ungeheure Facettenreichtum, der immer wieder zu neuen Überraschungen und Erlebnissen führt. Der Liebhaber etwas deftigerer Gerichte kommt sicherlich mit einer „Ochsenhachse aus Ennetbürgen mit weißen Bohnen, Dörrpflaumen, Rucola und BBC-Sauce“ genauso auf seine Kosten wie der Trüffelfan bei „Perigord-Trüffel mit Sellerie und Kokosnuss“. Und richtig warm ums Herz wird es einem bei „Warme Schokolade mit Trappe D´Echourgnac, Walnuss, Quitte und Portwein“.
Übersichtlich, verständlich, nachvollziehbar
Heiko Nieder, The Restaurant, Frozen CitrusJedem Gericht sind nach Aufwand der Herstellung, drei bis vier Seiten gewidmet. In der Regel sind zwei Seiten dem wunderbaren Foto der fertigen Komposition und einem kleinem prosaischen Text als Einleitung gewidmet. Danach folgen Zutatenliste und Zubereitung. Da, wie schon erwähnt, fast alle Gerichte aus vielen Einzelteilen bestehen, wird die Zubereitung eines jeden Einzelteils genau beschrieben, denn es sind bei den meisten Gerichten deutlich mehr Zutaten auf dem Teller, als es der Name des Gerichts vermuten lässt. Beispielhaft möchte ich ein Rezept herausgreifen:
„Amazake-Reis, mit Apfel, Topinambur, Thai- Basilikum und Holzessig. Dieses Gericht besteht aus insgesamt 51 Einzelteilen und 11 Einzelrezepten. Wie diese letztlich auf dem Teller anzurichten sind wird extra ausgewiesen.
Grundrezepte
Viele Grundrezepte für Saucen, Jus, Fonds, Pralinenfüllungen etc. schließen sich in ebenso übersichtlicher Form den fertigen Gerichten an. Ein kurzer Abriss der Karriere von Heiko Nieder und das danach folgende Rezeptregister bilden den Abschluss des Buches.
Tolle Fotografien und außergewöhnliche Ausstattung
Das 384 Seiten starke und 330 x 270 mm große Buch mit Leineneinband und Silberprägung sprengt schon mit seinem Aussehen und seiner Haptik den üblichen Rahmen. Was den Inhalt betrifft, glaubt man sich dann fast auf einem anderen Stern. Womit wir, des Sterns wegen, auch beim eigentlichen Thema wären. Dieses besonders edle Kochbuch gibt einen exklusiven Einblick in die herausragende Kochkunst von Sternekoch Heiko Nieder.
Fazit
Für alle, die eine klare Anweisung haben wollen, wie man ein Steak brät oder grillt, eine Kartoffelsuppe kocht, oder eine Frikadelle zubereitet, ist dieses Buch sicherlich nicht geeignet.
Doch für alle, für die Kochen mehr als Handwerk ist und Essen mehr als Nahrungsaufnahme, wird dieses Buch eine Offenbarung sein. Raus aus den Niederungen von Holzkohlegrillduft und von Tütensoßenbrodem geschwängerten Küchen. Hin zu lichten, fruchtig, frisch, leichten Kompositionen, die ihresgleichen suchen. Ein Feuerwerk an Aromen und eine schier unerschöpflich scheinende Kreativität an Zubereitung und Zusammenstellung. Alles andere als einfach und eine Herausforderung für jeden Hobbykoch! Aber wenn es gelingt: Wow, welch ein Erlebnis. Ein verzauberndes „Kochbuch“, ein Genussbrunnen in Wort und Bild: Augenweide und Gaumenschmaus vom Feinsten.
Text: Horst Kröber; Cover und Innenseiten: Matthaes Verlag; Foto Heiko Nieder im Aufmacher: Attila Czinke
Heiko Nieder
The Restaurant
Matthaes Verlag
Juli 2021
384 Seiten, 270 x 330 mm,
fester Einband (Leinenband mit Silberprägung)
89,90 Euro
ISBN 978-3-98541-047-7